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Wiederbelebung der Wirtshauskultur in Bayern

Studierendenprojekt der TU München

Blick auf die Pruttinger Gastwirtschaft „Zur Post“
Studierende erforschen am Beispiel des Gasthofs „Zur Post“ in Prutting die Ursachen des „Wirthaussterbens“
© TU München

Das bayerische Wirtshaus war und ist ein Ort des Zusammenkommens. Hier traf man sich nach der Arbeit, diskutierte über die großen und kleinen Ereignisse des Dorflebens und schmiedete Pläne für die Zukunft. Ob Hochzeit, Taufe oder Beerdigung – das Wirtshaus war der Schauplatz des sozialen Lebens, an dem Generationen aufeinandertrafen. Die Stuben waren erfüllt von Stimmen und dem Duft bayerischer Küche, das Klingen der Gläser schuf eine Atmosphäre der Geborgenheit und des Miteinanders. Eine Wirtshauskultur, die in den letzten Jahrzehnten in vielen bayerischen Gemeinden verblasst ist. Immer mehr traditionelle Wirtshäuser stehen leer, die Betreiber werden älter, und die junge Generation verliert zunehmend die Verbindung zu diesen einst so lebendigen Orten. Oft folgen Verfall und Abriss der zum Teil ortsbildprägenden Gasthäuser. 

Was aber sind die Ursachen für dieses Wirtshaussterben, und wie kann die Wirtshauskultur wiederbelebt werden? Diese Fragen beschäftigen nicht nur die Gemeinden, sondern auch die Wissenschaft. Matthias Faul, Architekt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TUM, begleitet dazu ein Projekt von Studierenden, die sich mit dem Thema „Wirtshauskultur“ befassen. „Diese Forschungsfrage ist an der Professur für Urban Design der TUM angesiedelt und Teil des Studios ‚Emergency Measures‘, in dem die Studierenden eigene Themen wählen, die für sie relevant sind“, erklärt Matthias Faul. „Wir glauben daran, dass die Studierenden mit ihrem kritischen Blick auf die Welt am besten erkennen können, was die Probleme der Zukunft sind und wie wir sie proaktiv angehen können.“

„Anfang des Semesters starteten wir das Projekt ‚Rural Renewal‘ mit dem allgemeinen Ziel, den ländlichen Raum zu revitalisieren und das Potenzial des Wirtshauses für die Stärkung des Dorfkerns zu erkennen“, so Matthias Faul. „Als eine wichtige Herausforderung der ganzen Thematik zeigte sich schnell das Wirtshaussterben. Um die Tragweite jener Entwicklung zu erfassen, recherchierten wir umfassend und verschafften uns ein tiefes Verständnis der Problematik. Die Studierenden entschieden sich dazu Ihr Semester-Projekt zu machen. Zunächst mit dem Fokus die leerstehenden Wirtshäuser zu Reaktiviren, doch in dieser Phase lag der Fokus zu sehr auf dem „Wirtshaus“ und zu wenig auf der „Kultur“. Mit der Zeit erweiterte sich unser Fokus daher auf eine kritische Analyse der Wirtshauskultur.“

„Die Arbeit an solchen Projekten startete mit immer einer umfangreichen Recherche und Analyse, in deren Verlauf die Studierenden auf die Arbeit der Verwaltung für Ländliche Entwicklung stießen“, so Matthias Faul. Diese hatte 2022 im Rahmen des Gemeindeentwicklungskonzepts von Prutting im Landkreis Rosenheim einen sogenannten integrierten Vitalitäts-Check erarbeitet. Mit Hilfe dieses Instruments der Ämter für Ländliche Entwicklung (ALE) werden die Innenentwicklungspotenziale in Gemeinden ermittelt und aufbereitet. Dabei wurden unter anderem Überlegungen zur Revitalisierung des dortigen Gasthofs „Zur Post“ angestellt.

 Austausch mit allen Akteuren

Matthias Faul war von Anfang an wichtig, dass die Studierenden im aktiven Austausch mit unterschiedlichen Akteuren wie Bürgerinnen und Bürgern, Wirtsleuten, Behörden, Bürgermeistern, Vereinen, dem Brauerbund, Regionalmanagern und Leerstandskümmerern ihre Erkenntnisse gewinnen. Ein zentraler Aspekt des Projekts ist zudem die Zusammenarbeit mit lokalen Wirtshäusern und deren Betreibern sowie der Einbezug der Bevölkerung. „Nur durch Aktivierung und Miteinander können wir unsere Zukunft gestalten und verändern“, erklärt Matthias Faul. Er hebt hervor, dass es für die Studierenden von entscheidender Bedeutung ist, ihre Rolle als Planerinnen und Planer neu zu definieren. Architektur bedeute nicht nur das reine Bauen, denn Bauen sei Leben, der stete Wandel und die Veränderung, das Gestalten von Raum – und diesen gestalte man mit Menschen und wie sie darin handeln, agieren.

 „Wir als Projektbeteiligte der TUM verstehen uns als Schnittstelle zwischen den Institutionen“, so Matthias Faul. Nur so könne man die Komplexität der sozialen und räumlichen Entwicklungen in ländlichen Regionen begreifen. Es sei wichtig, durch Aktionen und Interventionen vor Ort etwas zu erleben und daraus zu lernen. Diese Erfahrungen sollen in die Planung und die weiteren Überlegungen einfließen. Auch Tanja Mayer vom ALE Oberbayern sieht im Austausch zwischen Verwaltung und Hochschulen eine entscheidende Verbindung, um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen: „Hochschulen liefern wissenschaftliche Erkenntnisse, während die Verwaltung praxisnahe Perspektiven einbringt – eine Win-Win-Situation, die Lehre, Forschung und Qualität in der praktischen Arbeit verbessert. Nachhaltiges Planen und Bauen erfordert interdisziplinäre Ansätze.“

 Gründe für das Wirtshaussterben

Bei den Recherchen und ersten Ergebnissen zu den Ursachen stellte sich heraus, dass das Phänomen des „Wirtshaussterbens“ in Bayern äußerst komplex ist und von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, sagt Matthias Faul. Diese setzten im 19. Jahrhundert ein, als z.B. das Flaschenbier die Fassware zurückdrängte und immer mehr zu Hause konsumiert wurde.  Auch die Einführung von Grenzwerten für Alkohol am Steuer im Jahr 1953 ließen den Alkoholkonsum und damit auch den Umsatz in den lokalen Wirtshäusern sinken. Flexiblere Arbeitszeiten und weniger körperliche Arbeit führten zu veränderten Ess- und Trinkgewohnheiten und damit zu weniger Wirtshausbesuchen.

 Hinzu kommen veränderte Kommunikationsgewohnheiten durch technische Innovationen wie Fernsehen und Mobiltelefone. Die Unterhaltung fand immer häufiger zu Hause statt. Neuigkeiten werden nicht mehr face-to-face, sondern per Handy ausgetauscht. Dies ist mit einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft verbunden, was wiederum zu einem Verlust des Gemeinschaftssinns führt. Faul sieht in diesem Zusammenhang und im Umgang mit der Digitalisierung auch eine Gefahr, denn Digitalisierung könne niemals ein Ersatz für menschliches Miteinander sein. „Wenn wir das nicht begreifen, werden wir sozial und gesellschaftlich verarmen.“

Aber auch das Publikum hat sich deutlich verändert. Während früher meistens Stammgäste zugegen waren, sind die Gäste heute vielfältiger geworden. Statt deftiger Gerichte und Bier hat sich auch das Speisen- und Getränkeangebot enorm gewandelt. Wirte müssen heute entsprechend der Nachfrage flexiblere Angebote machen, was auch logistisch eine Herausforderung ist. Die Bindung an Mindestabnahmemengen und bestimmte Produkte im Rahmen von Brauereiverträgen, hat sich ebenfalls negativ auf den wirtschaftlichen Erfolg vieler Gastronomen ausgewirkt.

 Auswirkungen auf Schankwirtschaften hatte auch das 2010 eingeführte Rauchverbot, von dem Speisegaststätten weniger betroffen waren. Schließlich trug in jüngerer Vergangenheit der Bau von Vereinsheimen zu einer Konkurrenzsituation bei. Weil dort keine Personal- und Nebenkosten anfallen, sind im Vereinsheim die Getränkepreise in der Regel niedriger als im Wirtshaus. Diverse Feierlichkeiten die früher im Wirtshaus stattfanden, werden und wurden zunehmend in neue Vereins- und Bürgerhäuser am Dorfrand verlagert. Diese Entwicklung wiederum ist mit Flächenfraß und Versiegelung der Landschaft verbunden. Matthias Faul ist überzeugt, dass eine Nachverdichtung des Dorfkerns durch die Nutzung bestehender zentraler Gebäude wie des Wirtshauses sinnvoller wäre als Neubauten am Dorfrand. Zudem würde sie zur Belebung des Ortskerns beitragen.

 Nach seiner Einschätzung ist der Rückgang der Wirtshäuser auch in der Überalterung der Betreiber und dem Fehlen von wirtschaftlichen Anreizen zu sehen. Die Besucherinnen und Besucher binden sich zudem nicht mehr an ihre Heimat. Große Events sind zunehmend gefragt, während das alltägliche Bier oder Essen im Wirtshaus an Bedeutung verliert. In den letzten Jahren sei es außerdem versäumt worden, auf diese Entwicklungen zu reagieren und den Wandel rechtzeitig zu gestalten.

 Insgesamt zeigen statistische Daten einen deutlichen Rückgang der Schankwirte und Gasthöfe seit den 2000er Jahren, wobei die Betrachtung sich vor allem auf getränkeorientierte Schankwirtschaften konzentriert. Die Interpretation dieser Zahlen ist aufgrund der wechselnden Bemessungsgrundlagen der Statistiken schwierig. Insgesamt zeigt sich, dass das Überleben von Wirtshäusern stark von der Anpassungsfähigkeit der Wirte, den gesetzlichen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Trends abhängt, heißt es in der Publikation „Wirtshaus der Zukunft“ zum Projekt der TU München.

 Wirtshauskultur für junge Menschen

„Um die Wirtshauskultur gerade auch für jüngere Menschen wiederzubeleben, halte ich ein Bündel von Maßnahmen für sinnvoll“, so Matthias Faul. Es brauche Ideen und neue Methoden, darunter etwa proaktive Betreibermodelle, z.B. Vereine oder Jugendgruppen, die gastronomische Betriebe führen, ohne primär wirtschaftliche Ziele zu verfolgen. „Um den veränderten Bedürfnissen gerecht zu werden, müssen Wirtshäuser ihr Angebot erweitern und vermehrt Programme anbieten, die an die Funktionen eines Dorfzentrums angelehnt sind“, erklärt Matthias Faul. Auch die Kultur im Wirtshaus müsse wieder gesteigert werden: als Orte des Austauschs von Ideen und Gedanken, wo man gemeinsam etwas erleben und Momente schaffen kann. Orte, an denen Feierlichkeiten wie Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen stattfinden und wo Gemeinschaft gelebt wird, denn der Mensch ist für die Gemeinschaft geschaffen.

 Leerstände als Chance

Leerstände spielen beim Wirtshaussterben eine zentrale Rolle. Die Ursachen sind häufig aufgeschobene Nutzungs- und Finanzierungsüberlegungen der Eigentümer. Dabei sind Leerstände nicht nur eine Herausforderung, sondern bieten auch eine enorme Chance, so der Architekt. Ob als kulturelle Zentren, Wohnräume oder moderne Treffpunkte – die Möglichkeiten seien vielfältig. Doch um diese Potenziale zu nutzen, brauche es Kreativität, Engagement und Zusammenarbeit zwischen Eigentümerinnen und Eigentümern, Gemeinden und verschiedenen Institutionen. Es gehe darum, gemeinsam eine Vision zu entwickeln und diesen Schritt für Schritt umzusetzen.

 Viele leerstehende Wirtshäuser auf dem Land befinden sich seit Generationen in Familienbesitz. Die Eigentümer wollen diese Gebäude häufig nicht an die Gemeinde verkaufen oder nur zu exorbitanten Preise veräußern, ergab die Recherche der Studierenden. Es gibt jedoch auch positive Beispiele, wie in Gars am Inn. Dort hat die Eigentümerin der Gemeinde angeboten, ihr Gebäude kostenfrei für Veranstaltungen zu nutzen. Ihr Beweggrund: „Hauptsache, es tut sich was“. Dies ist ein risikoärmerer Ansatz für die Gemeinden, der die Reaktivierung des Wirtshauses unterstützt. Ein weiteres Beispiel ist Prutting. Dort hat ein ehemaliger Wirt der Gemeinde ein Vorkaufsrecht eingeräumt, obwohl er es an einen Investor für ein Vielfaches mehr hätte verkaufen können.

 Für die Nutzung dieses Wirtshauses gab es unterschiedliche Vorschläge. So hat z.B. die Technische Hochschule (TH) Rosenheim die Wiedereröffnung des Wirtshauses und die Schaffung eines Gesundheitszentrums vorgeschlagen. Eine andere Idee ist, das Rathaus in das Wirtshaus zu verlegen und das ehemalige Rathaus als Ganztagsschule zu nutzen. „Die Verlegung des Rathauses in dieses Gebäude trägt dazu bei, das historische Erbe der Gemeinde zu bewahren und zu pflegen“, sagt Matthias Faul. „Diese Ansätze zeigen, dass durch kooperative Lösungen das Wirtshaus revitalisiert werden kann.“ Pläne zur Umnutzung solcher alten Gebäude stoßen allerdings nicht immer auf Zustimmung, so die Erfahrung der Studierenden. Bedenken hinsichtlich der Finanzierung, unterschiedliche Interessen oder Konkurrenzsituationen etwa zu Vereinsgasstätten oder Bürgerhäusern bremsen die Pläne zur Revitalisierung alter Wirtshäuser oft aus. Dem könne man aber durch entsprechende transparente Überzeugungsarbeit begegnen.

 Ein weiteres Beispiel ist der Alte Wirt in Haag. Nach längerem Leerstand konnte die Gemeinde das Gebäude ersteigern. Es gibt einige Ideen für die künftige Nutzung: eine Kindergrippe, eine Zahnarztpraxis, Wohnungen und ein Dorfladen. Das Wirtshaus nutzen derzeit kleinere Gruppen und Gäste für ihren Stammtisch. Matthias Faul sieht die Stärken dieser Ideen in der multifunktionalen Nutzung des Gebäudes und der Schaffung eines zentralen Treffpunkts für die Gemeinde.

 Um beim Beispiel Prutting zu bleiben: Wirtshäuser könnten auch als Dienstleister im Bereich Catering fungieren, so die Überlegung der Studierenden. Heutzutage werden Schulen und Seniorenheime oft von überregionalen Catering-Unternehmen beliefert. Das Beliefern könnte z.B. das Wirtshaus in Prutting übernehmen, indem es regionale Produkte von Nahversorgern bezieht und die Mittagsverpflegung für die bald kommende Ganztagsschule sowie das Seniorenzentrum liefert. Dadurch würde das Wirtshaus nicht nur die fehlende Mittagskundschaft überbrücken, sondern auch eine lokale Wertschöpfungskette schaffen, die die regionale Landwirtschaft unterstützt. Generell besteht in Prutting Potenzial, die Direktvermarktung und den Verkauf regionaler Produkte noch stärker zu forcieren.

 Vertiefung des Projekts

Dies sind nur einige Beispiele, wie Wirtshäuser im ländlichen Raum reaktiviert werden könnten. Sie zeigen deren vielfältige Nutzungsmöglichkeiten und Bedeutung für die Gemeinden in sozialer, struktureller, aber auch kultureller Hinsicht. Die Studierenden der TUM haben deshalb schon Pläne für eine Vertiefung des Projekts und streben an, die Erforschung der Wirtshauskultur weiterzuführen. „Die Zukunft findet nicht nur in der Stadt statt, sondern auch im ländlichen Raum, und der ländliche Raum ist uns ein Anliegen“, so der am Projekt beteiligte Student Paul Osiander.

 Die Frage, welche Bedeutung die Wirtshauskultur für Bayern hat und warum sie wichtig für den Freistaat ist, erklärt Matthias Faul so: „Bayern ist reich am Unscheinbaren, so etwas ist die Wirtshauskultur. Etwas, das man nicht fassen kann und erst vermisst, wenn es verloren und verschwunden ist – ein langsames Verschwinden.“

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